Das Viktoria-Theater in Sprendlingen

Viktoria-Kino 2020Dieser Bericht über das Viktoria-Kino ist eine umfangreichere Fassung eines Artikels, der in der Offenbach-Post am  19. Dezember 2020 zum 100. Geburtstag des Viktoria-Theaters in Sprendlingen erschienen ist. Unser Mitglied Peter Holle, langjähriger Lokalredakteur der Frankfurter Rundschau, erinnert sich an seine jugendzeitlichen Kinoerlebnisse in den 1950er Jahren. Im zweiten Teil des Berichtes erkundete er als Journalist im Gespräch mit der Familie Kreisel, den Besitzer des Kinos, was sich damals hinter den Kulissen des Viktoria-Theaters abgespielt hat - und was letztlich das Erfolgsgeheimnis des Viktorias war und immer noch ist. Die Geschichte dieses Sprendlinger Kinos ist einzigartig zu nennen: Es dürfte deutschlandweit eines der wenigen Kinos sein, die seit 100 Jahren Filme zeigen und sich in vierter Generation im Familienbesitz befinden.

Hier sind die Links zu der Website der beiden Theater und zu einem Bericht der Offenbach-Post über das 90. Kinojubiläum. Aus dem Stadtarchiv Sprendlingen stammt eine Anzeige, die belegt, dass Philipp Ebert und Wilhelm Hunkel 10 im Saal des Darmstädter Hofs ein Lichtspieltheater eröffneten.

 

Wundertüten  im goldenen Dreieck

Von Peter Holle

Weihnachtszeit – Kinozeit.

Das galt für alle, die – wie ich - in den 1950er und frühen 1960er Jahren in Sprendlingen aufgewachsen sind und ihre Kindheit und Jugend im  Ort erlebt haben. Der Gabentisch war reich gedeckt mit Film-Präsenten – und das nicht nur im Advent, zum Christfest, zwischen den Jahren und an Neujahr. Goldene Jahre! Denn: Es gab ja in dem von Isenburgern oder Langenern gern geschmähten „Kuhdorf“ sage und schreibe drei Kinos, die alle in einer „goldenem Dreieck“ binnen weniger Minuten per pedes zu erreichen waren: die „Neuen Lichtspiele“ („NeLi“) in der Hauptstraße, das „Viktoria“ in der Offenbacher Straße und nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt in der „Frankfurter“ den „Rex-Palast“.

 

In allen dreien gehörte die Aufteilung nach Parkett/Sperrsitz/Balkon zum Standard – die Plätze wies eine Anweiserin mit Taschenlampe und Spitzenhäubchen an. Zum Personal zählten auch Kassierer, Garderobiere und Eisverkäuferin. Nicht zu vergessen die Filmvorführer, die zeitweise Schichtdienst schoben und  allemal gut zu tun hatten. Kein Wunder: Alle drei Kinos machten nahezu das ganze Jahr über pausenlos und rund um die Uhr Programm. Das „Viktoria“ wochentags um 20.30 Uhr und sonntags 17, 19.15 Uhr und 21.15 Uhr. Für die mich interessante sonntägliche „Jugendvorstellung“ teilte sich der Vorhang um 14.30 Uhr.

 

Im „NeLi“ ertönte der Gong zum Kinderkino eine halbe Stunde früher um 14 Uhr. Es folgten drei „NeLi“-Sonntagsvorstellungen für die älteren Semester um 16, 18.15 und 20.30 Uhr. Wochentags warf der Operateur um 20.30 Uhr den Projektor an, freitags und samstags auch für Spätvorstellungen um 22.30 Uhr.

 

Die Qual der Wahl für die Kinogänger komplettierte das „Rex“ mit Samstagsterminen um 20 und 22 Uhr, Sonntagsfilmen um 16.30 Uhr, 19 und 21 Uhr. Auch hier konnte man natürlich montags bis donnerstags von 20.30 Uhr an Filme gucken.

 

„Revolverkino“ mit Holzklasse

Für die Sprendlinger Kids und Teenies waren vor allem die Sonntage relevant. Da bestand oft die Chance, sofern es das Taschengeld hergab, per Kino-hopping in einem Rutsch drei Filme unterschiedlichster Couleur zu gucken.

 

Im „NeLi“ liefen beispielsweise sonntags in der 14-Uhr-Vorstellung die Märchenfilme. Zur Weihnacht 1957 waren das „Frau Holle“ und „Rumpelstilzchen“, im Jahr drauf „Schneeweißchen und Rosenrot, 1959 „König Drosselbart“. NeLi-Adventsknaller war jedoch 1959  die deutsch-österreichische Verfilmung von „Und ewig singen die Wälder“ – eine in Norwegen spielende Familiensaga, in der Gert Fröbe und Hansjörg Felmy die männlichen Haupfiguren verkörperten. Das Melodram nach einem Romanbestseller von Trygve Gulbranssen, das in Deutschland sieben Millionen Zuschauer hatte, flimmerte zwar erst nachmittags und abends über die NeLi-Leinwand, aber mit ihren Eltern kamen auch hunderte Sprendlinger Mädchen und Buben rein.

 

AnzeigeDas „Viktoria“ mit seinen 280 Plätzen Marke Holzklasse und der Empore  firmierte  im Städtchen als das „Revolverkino“, wo Wildwest- und Abenteuerfilme ihre örtliche Abspielstätte hatten: mit Sindbad dem Seefahrer, dem Dschungelheros Tarzan  und einem erklärten Sprendlinger Publikumsliebling,  dem krummbeinigen und fusselbärtigen Fuzzy, der um die Ecke schießen konnte. Zum Christfest 1957 hatten die Fans gleich zwei einschlägige Angebote. Zum einen den mit „harte Fäuste, heißen Colts, scharfe Ritte“ annoncierten  Cowboystreifen „Schussbereit“ mit   Westernstar Randolph Scott. Die Hauptrolle im zweiten Streifen „Tarzan und die verschollene Safari“ spielte Gordon Scott. Es war der erste Tarzan-Film in Farbe, er startete in der Bundesrepublik am 19. Dezember 1957 – undAnzeige zeitgleich auch in Sprendlingen.

 

Im Rex-Palast, das sich auf Schlager- und Musikfilme spezialisiert hatte, wurde zur gleichen Zeit ein Klassiker gegeben, der Groß und Klein gleichermaßen zum Kintopp zog und für Besucherrekord sorgte: Walt Disneys legendäre Zeichentrickverfilmung von „Schneewittchen und die sieben Zwerge“.  Volles Haus im „Rex“  hatten auch die  Weihnachtsfilme 1958 („Peter Voß der Millionendieb“ mit O.W. Fischer und Walter Giller) und 1959 („Du bist wunderbar“ mit Caterina Valente).

 

Lehrer Kreisel macht Gesichtskontrolle

Bei all diesen Aufführungen gab’s vorneweg die Wochenschau – von der Ortsjugend als „Fox dröhnende Knochenschau“ verballhornt – und einen Kulturfilm. Der ließ sich von der Steuer absetzen und war von daher bei allen Kinobetreibern im Lande beliebt. Dafür fehlte der heute übliche Werbeblock.  Fehlanzeige auch bei den Trailer-Vorschauen auf das, was in den kommenden Wochen über den Projektor geht.

 

AnzeigeWas-wann-wo in den Sprendlinger Kinos läuft, war für mich in den 1950ern oft  bis zuletzt ein Rätsel und hatte was von einer Wundertüte. Die neuen Filme wurden nämlich zumeist in letzter Minute plakatiert und annonciert. Informiert habe ich mich aufm Schulweg an einem Schaukasten in Bahnhofsnähe oder, sobald ich in der Schillerschule das Lesen erlernt hatte, im Blättche, dem „Sprendlinger Stadt-Anzeiger“. Der hatte zwar seine Erscheinungsweise dem zweimaligen wöchentlichen Programmwechsel von NeLi, Viktoria und Rex angepasst, kam aber erst dienstags und freitags raus – also just an den Tagen, an denen die neuen Filme anliefen.

Eine zusätzliche Informationsquelle wurde mir in meiner Taufkirche St. Laurentius offeriert. Im Eingangsbereich hing ein Glaskasten, in dem der katholische „Film-Dienst“ seine Bewertungen über die im Ort gezeigten Filme aushängen ließ. Da standen dann die harschen Warnungen vor „Schmutz“ und „Schund“, die fett gedruckten Hinweise auf die Bestimmungen des Jugendschutzschutzgesetzes und das Diktum, für welches Alter die rezensierten Streifen denn „geeignet“ seien.    

 

Dass keiner ins „Viktoria“ und in den „Rex“-Palast reinkam, der von Alters oder Gesetzes wegen nicht reindurfte, dafür sorgte aber schon ein gewisser Adolf Kreisel – und das über Jahrzehnte.

 

Der gebürtige Sprendlinger des Jahrgangs 1910 hatte 1936 die Erna Ebert, die Tochter des Viktoria-Gründers Philipp Ebert, geehelicht und damit ins hiesige Filmgeschäft eingeheiratet. Zur Einlasskontrolle hätten die Schwiegereltern kaum einen Besseren finden können. Adolf Kreisel war seit 1933 (bis zur Pensionierung 1972) nämlich im Hauptberuf Lehrer und, da er an der Pestalozzi- und der Schillerschule unterrichtete, kannte er über Generationen hinweg jeden Pennäler in seiner Heimatstadt.

 

Mehr noch: Als Zehnjähriger trat Adolf der Sprendlinger Turngemeinde 1848 (STG) bei, war als Turner, Leichtathlet, Hand-, Fuß- und Faustballer und Schüler- und Jugendwart aktiv. 1950 avancierte er zum STG-Vorsitzenden (bis 1962). 1958, zum groß begangenen 110-Jahre-Jubiläum leitete er einen Großverein mit 800 Mitgliedern, von denen 306 als „jugendlich“ gezählt wurden. Die waren ihm allesamt von Angesicht bekannt. Schier unmöglich für einen Sprennlenger Minderjährigen, unbemerkt die Kreiselsche Gesichtskontrolle im Foyer zu passieren.

 

„NeLi“ kontra „Rex“

Kreisel war indes keinesfalls nur der Aufpasser vom Dienst, der nach Schulschluss und Hobbysport in der STG ab und zu den Zerberus an der Kinokasse gab. Er folgte der Devise „Morgens Schule, mittags Kino“ und brachte sich von Anfang an – bis zu seinem Tod  2003 - in den Familienbetrieb mit den bewegten Bildern ein. Das Engagement begann 1938/39, als das damals noch mit gußeisernen Öfen beheizte und mit knarrenden Klappstühlen möblierte „Viktoria“ vom Schwiegerpapa modernisiert ward, sprich: Zentralheizung, Filmbühne, Balkon, Polstersitze, der immer noch bestehende Vorbau mit Garderobe und Eingang an der Straße. Nach Soldatenzeit und Gefangenschaft sorgte er bei der Film-Akquise, an der Kasse und im Büro mit dafür, dass das „Viktoria“  1948 „Wir spielen täglich“ melden konnte und schließlich 1949 der wöchentliche Programmwechsel „Freitag bis Dienstag/Mittwoch bis Donnerstag“ eingeführt ward.

 

1951 war Adolf Kreisel besonders gefordert. Ein vom „Stadtanzeiger“ als „Bauherr und alter Kinofachmann“ apostrophierter Fritz Klag eröffnete Ende November in der Hauptstraße die „Neuen Lichtspiele“ (NeLi) mit „Fanfaren der Liebe“ (Dieter Borsche und Georg Thomalla) und dem „Gestiefelten Kater“. Die Heimatzeitung beschrieb das  Kino mit seinen mehr als 300 Plätzen als „neue, ganz beachtliche Kulturstätte in Sprendlingen und als schönes vorweihnachtliches Geschenk für eine ganze Stadt“. Aus war’s mit dem „Viktoria“-Monopol.

Die Eberts und die Kreisels reagierten umgehend, hielten mit einem, wie sie sagten und warben, „Palast“ dagegen. Sie  bauten das „Rex“, das kein halbes Jahr später am Ostersamstag 1952 in Betrieb ging und für die damals neuen Vorführtechniken wie Breitwand und Cinemascope  gerüstet war. Farbfilme – das nur nebenbei – liefen in Sprendlingen schon seit 1930. Das ist Psychomittlerweile auch schon genau 90 Jahre her – eigentlich noch’n Jubiläum….

 

Die Konkurrenz zwischen „Rex“/“Viktoria“ und „NeLi“ dauerte 13 Jahre, während der Fritz Klag der Ebert-Kreisel-Kinodynastie schon mal den einen oder anderen Kassenschlager wie Alfred HitchcocksComtesse 2020 wegschnappte. 

1964 gab er auf. In den Räumlichkeiten etablierte sich der Dekape-Möbelmarkt, der jedoch 1974 ausbrannte. Auf dem Ruinengrund  zog  die Sprendlinger Wirtin Ute Klein ein Haus hoch und richtete 1976 im Bereich des ehemaligen „NeLi“-Foyers die „Bar Comtesse“ ein. Es war der einzige gastronomische Betrieb mit Nachtkonzession in Sprendlingen.  Die Bar schloss Ende 2018 ihre Pforten. Ute Klein ist am 28. Mai 2020  gestorben.

 


Als „Hofrat Geiger“ Blockbuster war….

Vor 40 Jahren: Peter Holle interviewt die Kreisels im Viktoria

„Im Viktoria und im Rex – da können Sie auch in den Toiletten vom Fußboden essen. Wir sind Sprendlinger – und Sie wissen ja, was das heißt!“

 

Erna und Adolf KreiselFür Erna Kreisel sind Sauberkeit, Reinemachen und Sanitär-Hygiene auch und gerade ein Grund dafür, dass sich die beiden Kinos  nunmehr 60 („Viktoria“) und 30 („Rex“) so wacker und erfolgreich gehalten haben. Die Lichtspielhäuser sind da schon in dritter Generation in Familienbesitz, und sie haben durchgängig „eigentlich immer“ gespielt.

1980 war das damalige Jubiläum für mich Anlass genug, Erna und Adolf Kreisel  für die „Frankfurter Rundschau“ zu interviewen und nach dem Erfolgsgeheimnis zu fragen. Wir treffen uns im Viktoria, genauer in der Privatwohnung der Familie überm Kinosaal. Ich kenne das Ehepaar, das seit 1961 Regie in beiden Häusern führt, seit meinen Kindertagen in den frühen 50ern – von da an datiert meine aktive Kinogängerzeit. Ihn als strengen Grundschullehrer und Kino-Prinzipal, sie als die resolute Dame hinter der Kasse.

 

Ihr  Ehemann Adolf Kreisel hat stets genau Inkasso-Statistik geführt und den jeweiligen Publikumserfolg in Kladden notiert. Er blättert sie für mich auf  und nennt die Renner meiner frühen Kinojahre. So kamen 1952 zum Premiere- und Startfilm für das „Rex“, die Eisrevueplotte „Der bunte Traum“, exakt 2011 zahlende Zuschauer in die Vorstellungen. Was aber keinesfalls Spitze war. Die Förster-Melodramen der Fifties brachten es locker auf 5000 Zuschauer. Und für „Hofrat Geiger“ mit Paul Hörbiger interessierten sich binnen einer Woche (!) im Jahr meiner Geburt, 1949, sage und schreibe 4199 Zuschauer. Bei einer Woche Laufzeit folgten  „Die Försterchristel“ mit 3034  und  „Toxi – das Negerkind“ mit 3200 Besuchern.

 

In der Kreisel-Statistik stand in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts in der Regel immer aktuelle Ware auf dem Programm – auch das ein Gradmesser und , neben der Putzteufelei, zweites Kriterium für den anhaltenden Publikumszuspruch. Bundesstarts, Blockbuster, Action-Hits und Kassenschlager liefen halt immer à jour. „Wenn das nicht gleich mitgespielt wird von Anfang an, kannste das vergessen“, lautete das Kreiselsche Generationen-Credo, „denn eine Woche später haben das Ding schon alle in Frankfurt oder anderswo gesehen.“

 

Familie in den 1940ernGeordert wurden die Kopien von den Sprendlingern montags per Telefon oder face to face, wobei Adolf Kreisel mitnichten in der Manier eines  Bittstellers auftrat, sondern, wie er sagt, „mit härteren Bandagen, forsch und resolut“. Er habe sich das leisten können, denn dass  das „Viktoria“ (und später auch das „Rex“) aktuell beliefert wurden, ist von den (meist) guten alten Zeiten überkommen und den gedeihlichen Geschäftsbeziehungen geschuldet, die Philipp Ebert mit den fünf bis sechs Frankfurter Kinoverleihern  aufgebaut und gepflegt hat.

 

Die datieren aus dem Jahr 1920. Da hat sein Schwiegervater, der Sprendlinger Elektromeister und Kinopionier Philipp Ebert, mit seiner Frau Katharina in der jetzigen Offenbacher Straße 9a das „Viktoria“ auf-  und damit durchaus Rhein-Main-weit Furore gemacht. Er hat sich die Vorführapparate gekauft und das mühsame Geschäft des Filmvorführens im 5000-Einwohner-Dorf auf sich genommen. Es gab nämlich noch keine Elektrizität am Hengstbach, der Strom kam erst 1925. Um genügend Helligkeit für die Projektion zu kriegen, schaffte Ebert einen großen Motor bei und warf den allabendlich an.

 

drei GenerationenDas „Viktoria“ ist seitdem mehrmals modernisiert, umgestaltet und renoviert worden. Zuletzt haben das die dritte und vierte „Viktoria“-Generation, die Kreisel-Tochter Brigitte und ihr Sohn Stephan, unternommen. Zum 100. Jubiläum in diesem November 2020, zu dem sie es richtig krachen lassen und ein Top-Programm aufzäumen wollten. Sie ließen rote Jubiläumskulis fertigen, , eine neue Bestuhlung einbauen und neuen Fußbodenbelag verlegen.

 

Hat nur noch keiner gesehen, denn das Kino ist, als die „wegen Renovierung geschlossen“-Schilder wegkamen, wieder dichtgemacht worden. Aus den bekannten Gründen (= Corona).