Euthanasie-Opfer aus der heutigen Stadt Dreieich

Am 6. Juni 2024 veranstalten die Freunde Sprendlingens eine Gedenkstunde für die Opfer des NS-Euthanasie-Programms im Jahr 1941. Im wesentlichen wurde über das referiert, was in der untenstehenden Publikation geschrieben wurde.

 

Der Vereinsvorsitzende Wilhelm Ott betonte in seiner Ansprache, dass durch die Nennung der Namen der Opfer diesen ein Teil ihrer verlorengegangenen Identität und Würde zurückgegeben werden soll. Mit der Tafel auf dem Findling will der Verein auch ein Zeichen gegen das Vergessen setzen und daran erinnern, dass die Menschenwürde jeden Tag aufs Neue verteidigt werden muss. 

 

Bürgermeister Burlon dankte in seinen abschließenden Anmerkungen den Freunden Sprendlingens für ihr Engagement in Sachen Erinnerungskultur. Die Offenbach-Post berichtete über die Veranstaltung.  Starten Sie mit einem Klick auf das Bild links einen kurzen Film auf YouTube.


Das Wort Euthanasie stammt aus dem Griechischen und kann mit "guter oder leichter Tod" übersetzt werden. Heute wird dafür eher der Begriff "Sterbehilfe" benutzt, weil "Euthanasie" für die systematische Tötung von behinderten und psychisch kranken Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus steht. Schon vor 1933 wurde die Tötung von psychisch Kranken und  geistig Behinderten, auch von Neugeborenen mit Behinderung, diskutiert. Aber erst die Nationalsozialisten machten mit dem Konzept der "Rassenhygiene" den Weg frei für Zwangssterilisation und Ausgrenzung von "rassisch minderwertigen" Personengruppen. 1939 organisierten die Nazis unter der Tarnbezeichnung T4 die Erfassung und Selektion der Patienten in den unterschiedlichen Landesanstalten und koordinierten den Transport in Zwischenanstalten, von wo aus die Personen mit den berüchtigten grauen Bussen direkt in die Tötungsanstalten verbracht wurden. Dort wurden sie in als Duschräume getarnte Gaskammern geführt und mit Kohlenmonoxid-Gas ermordet. Die Leichen wurden anschließend in Krematorien eingeäschert. Es ist nicht bekannt, was mit der Asche der Getöteten geschah. Die Angehörigen und die lokalen Standesämter erhielten dann Schreiben mit fingierten Todesdaten und Sterbeorten und Todesursachen, um die Mordaktionen zu verschleiern. Auch wegen Protesten von kirchlicher Seite wurde die Aktion T4 im August 1941 eingestellt, zumal das primäre Ziel, die Tötung von 70.000 Patienten, erreicht war. Aber das Morden ging weiter: Ab August 1942 wurden Patienten in den lokalen Krankenanstalten gezielt durch die Verabreichung von überdosierten Arzneimitteln oder Nahrungsentzug getötet (dezentrale Euthanasie).

 Im Internet gibt es umfangreiche Informationen über die Krankenmorde in der Zeit des Nationalsozialismus und über die Aktion T4. In der heimatkundlichen Literatur der Landschaft Dreieich wurde das Thema "Euthanasie im Dritten Reich" nur unzureichend behandelt. Die Initiatoren der Stolperstein-Aktion in Langen recherchierten 2014 nach Langener Euthanasie-Opfern. Sie konnten 10 Personen identifizieren, deren nun mit einer Namenstafel an der Mauer des Langener Friedhofs gedacht wird. 

Im Juli 2023 fragten wir in der Gedenkstätte Hadamar an, ob es Unterlagen zu getöteten Patienten aus Sprendlingen gäbe. Hadamar war von Januar bis August 1941 eine von sechs "Euthanasie"-Tötungsanstalten der Aktion T4, in der in diesem Zeitraum 10.000 Patienten getötet wurden. Man informierte uns, dass Unterlagen von drei Personen mit dem Geburtsort Sprendlingen vorhanden seien. Alle drei sind im Familienbuch Sprendlingen verzeichnet, von allen dreien konnten im Stadtarchiv Dreieich die Pflegekostenabrechnungen gefunden werden. Damit war ausgeschlossen, dass es sich um Sprendlingen in Rheinhessen handelt. Wir danken an dieser Stelle Frau Madeleine Michel von der Gedenkstätte Hadamar. Die folgenden Texte sind z.T. wörtlich ihren Angaben entnommen. Das Bild links stammt von der Website der Gedenkstätte Hadamar

 

Frau Justine Kother, geb. Hunkel am 02.04.1896 in Sprendlingen, wurde wahrscheinlich 1939 in die Anstalt Heppenheim aufgenommen. Von dort wurde sie am 10.04.1941 in die Erziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern bei Nassau verlegt. Scheuern war zu diesem Zeitpunkt eine sogenannte "Zwischenanstalt" für die Tötungsanstalt Hadamar. Von Scheuern gelangte Frau Kother in einem Transport mit 82 weiteren Patienten am 16.05.1941 nach Hadamar. Die Patienten eines solchen Transports wurden in der Regel noch am Tag der Ankunft in die im Keller der Anstalt befindliche Gaskammer geschickt und ermordet. Das Verlegungsdatum nach Hadamar ist somit als Todesdatum von Frau Kother anzusehen. Die Leichname der Ermordeten wurden anschließend noch vor Ort eingeäschert. Die Angaben zum Schicksal von Frau Justine Kother stammen aus dem Hauptkrankenverzeichnis der Heime Scheuern.
Familienbuch-Eintrag, Pflegekostenabrechnung,
Morddatum: 16.05.1941, gefälschtes Todesdatum: 05.06.1941

Herr Philipp Stroh, geb. am 05.11.1896 in Sprendlingen, wurde wahrscheinlich 1937 in das Philippshospital bei Goddelau aufgenommen. Von dort verlegte man ihn am 01.04.1941 in die Landesheil- und Pflegeanstalt Weilmünster. Als letzter Wohnort ist in den Unterlagen „Sprendlingen“ notiert. Weilmünster war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls eine sogenannte "Zwischenanstalt" für die Tötungsanstalt Hadamar. Von Weilmünster gelangte Herr Stroh in einem Transport mit 105 weiteren Patienten am 06.06.1941 nach Hadamar. Das Verlegungsdatum nach Hadamar ist somit als Todesdatum von Herrn Stroh anzusehen. Die Angaben zum Schicksal von Herrn Philipp Stroh stammen aus der Verlegungsliste Weilmünster-Hadamar, die als Beweisstück im sog. „Hadamar-Prozess“ 1947 geführt wurde. Sie trägt die Signatur: HHSTAW, Abt. 461/32061, Bd. 03.
Familienbuch-Eintrag, Pflegekostenabrechnung,
Morddatum: 06.06.1941, gefälschtes Todesdatum: 13.06.1941 in Sonnenstein bei Dresden

Frau Elisabeth Fricke, geb. am 24.05.1903 in Sprendlingen, wurde wahrscheinlich 1937 in das Philippshospital bei Goddelau aufgenommen. Von dort erfolgte am 01.04.1941 die Verlegung in die Landesheil- und Pflegeanstalt Weilmünster. Als letzter Wohnort ist in den Unterlagen im Archiv Hadamar „Sprendlingen“ notiert. Von Weilmünster gelangte Frau Fricke in einem Transport mit 105 weiteren Patienten am 06.06.1941 nach Hadamar. Das Verlegungsdatum nach Hadamar ist somit als Todesdatum von Frau Fricke anzusehen. Die Informationen zu Frau Elisabeth Fricke stammen zum Teil ebenfalls von der Verlegungsliste des Transports Weilmünster-Hadamar aus dem „Hadamar-Prozess“ sowie aus dem Aufnahmebuch Weilmünster 1937-1941. Über Frau Fricke gibt es im Bundesarchiv in Berlin eine Patientenakte (Signatur: R 179 / 27847), auf deren Einsicht wir nach einem Informationsaustausch mit Archivmitarbeitern verzichteten.
Familienbuch-Eintrag, Pflegekostenabrechnung,
Morddatum 06.06.1941, gefälschtes Todesdatum: 23.06.1941  

 

Herr Georg Lauer, geb. 21.02.1890 in Götzenhain, war seit 1913 im Philippshospital bei Goddelau untergebracht und wurde am 12.03.1941 in die Landesheil- und Pflegeanstalt Weilmünster aufgenommen. Von dort aus wurde Herr Lauer am 29.05.1941 mit 118 weiteren Patientinnen und Patienten in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt und am selben Tag dort ermordet. Als offizielles Todesdatum hatte das Sonderstandesamt den 12.06.1941 vermerkt.

Ihm wurde bereits mit einem Stolperstein in Götzenhain gedacht.

 

Frau Annemarie Preusse, geb. 24.07.1908 in Sonderburg, wohnte ursprünglich in Buchschlag, Hainer Trift 14 in ihrem Elternhaus. Sie wurde am 25.02.1941 aus der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Alzey nach Weilmünster verlegt. Sie sollte von dort in die Tötungsanstalt Hadamar eingeliefert werden, wurde aber "zurückgestellt" und am 04.03.1941 auf Betreiben ihrer Mutter nach Buchschlag entlassen. über die Kuranstalt Hohemark und die Landesanstalt Eichberg kam sie in Begleitung ihrer Mutter am 16.05.1941 in die Westfälische Diakonissenanstalt Sarepta. Diese Anstalt gehört zum Umfeld der v. Bodelschwinghschen Stiftung Bethel, die nicht an den Tötungsaktionen der Nationalsozialisten teilnahm. Dort blieb sie über ein Jahr, bis sie am 12.06.1942 in der Evangelischen Stiftung Tannenhof bei Remscheid aufgenommen wurde. Auch von dieser Anstalt wird berichtet, dass sie nicht an der Aktion T4 teilnahm. Annemarie Preusse verbrachte ein knappes Jahr in Tannenhof, bevor sie in der Anstalt Hausen in Waldbreitbach untergebracht wurde. Ihre Mutter konnte nicht verhindern, dass man sie am 07.05.1943 in die Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde (im heutigen Polen) verlegte. Den vorliegenden Berichten zufolge wurden die neu eingewiesenen arbeitsunfähigen Patienten kurz nach der Ankunft getötet. 

 

Das Engagement ihrer Mutter ließ sie die Aktion T4 überleben, am Ende fiel sie dennoch der unerbittlichen nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie zum Opfer. Ein ausführlicher Bericht zum Gedenken an Annemarie Preusse ist auf der Website von Wilhelm Ott zu finden. Auf dem Stein des Grabes der Familie Preusse auf dem Buchschlager Friedhof wird Annemarie gedacht.